Vor hundert Jahren hat das Bauhaus eine neue Architekturepoche eingeläutet. Welche Wichtigkeit hat es in der heutigen Architekturlehre?

Ita Heinze-Greenberg: An dem Meilenstein, den das historische Bauhaus gesetzt hat, kommt kein Dozent vorbei, der Geschichte und Theorie der modernen Architektur vermitteln will. Wichtiger als seine wissenschaftlich-akademische Verortung innerhalb des Entwicklungsprozesses des Neuen Bauens und wichtiger als die formalen Impulse, die der «Bauhaus-Stil» durchaus noch zu geben vermag, scheint mir sein pädagogischer Ansatz für die heutige Architektenausbildung. Das Bauhaus stand und steht für Konzepte wie Experiment, Grenzüberschreitung, Freiheit der individuellen Entfaltung für Lehrende und Lernende sowie für eine breit angelegte handwerklich-technische und künstlerische Allgemeinbildung als Grundlage für den zukünftigen Baumeister. Dieses Potenzial, das nach einer zeitgenössischen Übersetzung verlangt, ist noch lange nicht ausgeschöpft.

Welchen Einfluss hat die Bauhaus-Bewegung auf das Bauen und das Denken in Systemen gehabt? 

IHG: Architektur hat mit Ordnung zu tun, und diese benötigt Systeme. Schon Vitruv spricht von den Grundmassen, den moduli,die das Bauwerk proportionieren und gliedern. Diverse geometrische Systeme, wie Quadratraster oder «Gitter», organisierten den Bauplan von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit. Eine radikale Durchrationalisierung des Entwerfens entstand spätestens um 1800 mit der Lehre Jean-Nicolas-Louis Durands am Pariser Polytechnikum und der Errichtung des Crystal Palace in London 1851, für den Joseph Paxton bereits seriell vorgefertigte Elemente nutzte. Am Bauhaus wurden diese Ansätze referenziert und mit den fordistischen Methoden des Fliessbands gekoppelt. Walter Gropius sah sich als künftiger «Wohn-Ford», der standardisierte Häuser an der industriellen Taktstrasse produziert. Die Siedlung Dessau-Törten war sein erstes Versuchsfeld. Die 1936 mit Unterstützung des Deutschen Normenausschusses publizierte Bauentwurfslehre von Ernst Neufert, Gropius’ langjährigem Mitarbeiter und ultimativem Schüler, trieb die Ambitionen des Bauhaus-Gründers auf die Spitze. Neufert sah sich selbst in einer Reihe mit den grossen historischen Vorbildern wie Vitruv, Alberti und Dürer, deren Proportionssysteme er an die modernen Erfordernisse angepasst hatte. «Der Neufert», wie das inzwischen in 42. Auflage und in 18 Sprachen übersetzte Opus meist kurz genannt wird, ist weltweit zum meistverkauften Architekturbuch avanciert. Damit steht sein internaler Einfluss ausser Frage. Inwieweit seine Bedeutung als Nachschlagewerk im Zeitalter von CAD und BIM erhalten bleibt, wird sich zeigen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das standardisierte Bauen mit den Plattenbauten in Ost und West eine Blütezeit. Die hohe ästhetische Qualität, der sich das Bauhaus verschrieben hatte, blieb dabei auf der Strecke. Was sind die Gründe dafür?

IHG: Die Beurteilung der «ästhetischen Qualität» ist oft eine Frage des Geschmacks, und über den lässt sich bekanntlich nicht streiten. Die Bauhaus-Bauten, die Walter Gropius inmitten einer traditionellen, ziegelgedeckten Walmdach-Bebauung errichtete, wurden von den Dessauer Bürgern lange als ästhetisch nicht befriedigend empfunden. Dagegen beneidete man die ersten Mieter, die Ende der 1950er-Jahre eine der ersten Plattenbau-Siedlungen in West-Berlin bezogen. Beim Hansaviertel für 6000 Einwohner war die Prominenz der modernen Architektur inklusive Gropius beteiligt. Noch heute gilt es bei seinen Bewohnern – unter ihnen etliche Architektinnen und Designer – als «spannendes Quartier». Auch die Siedlungen des Schweizer Baupioniers Ernst Göhner, dessen Werk in Volketswil in den 1960er- und 1970er-Jahren Beton-Normelemente im Akkord produzierte, werden – vor allem nach umfangreichen Sanierungen – nicht mehr nur als Zeugen einer profitorientierten Baukultur bewertet. Und selbst die Immobilienbranche hat vor etlichen Jahren Plattenbauten als lukratives Investmentsegment entdeckt. Die «Platte» ist salonfähig geworden. Bevor das Bauhaus zum Mythos wurde, vergingen auch einige Jahrzehnte.

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Ita Heinze-Greenberg
Titularprofessorin für Architekturgeschichte der Moderne an der ETH Zürich

Das Potenzial des Bauhaus-Gedankens ist noch lange nicht ausgeschöpft.

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