Die Wohnbauten an der Genter Strasse in München regen auch heute noch an, das eigene Wohnen innerhalb des modularen Rasters mitzuformen.
In München herrschte Ende der 1960er-Jahre Aufbruchsstimmung. Die Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 1972 liefen auf Hochtouren und die Stadt wuchs am Puls der Zeit. Vor allem die innerhalb kurzer Zeit entstandenen Stadtquartiere an der Peripherie prägten das neue Gesicht der Stadt. Der junge Architekt Otto Steidle (1943-2004) hatte im Münchner Norden gerade seine ersten Häuser gebaut, als ihm 1971 mit den Wohnbauten an der Genter Strasse ein vielbeachteter Start in eine lange und reichhaltige Karriere mit nationaler Ausstrahlung gelang. Am Schwabinger Pionierprojekt waren auch Ralph und Doris Thut beteiligt. Zusammen stellten sie mit einem experimentellen Bau gängige Auffassungen von Haus und Wohnen auf den Kopf: Durchlässig anstatt gekämmert sollten die Grundrisse sein und nutzungsoffen anstatt an einen bestimmten Zweck gebunden; veränderbar und überhaupt nah an den eigenen Bedürfnissen sollte man hier leben können.
Wohnen im Industriebaukasten
Schon die kompromisslose Baugestalt machte die Absichten der jungen Architekten anschaulich und die Idee vom flexiblen Wohnen für ihre Zeitgenossen glaubhaft: Anstatt konventionell Stein auf Stein zu schichten, liessen sie die tragende Struktur der Wohnzeile als modular konzipiertes, industrielles Bausystem vorfertigen. Auf der Baustelle wurden dann acht Reihen mit je bis zu vier dreigeschossigen Konsolstützen in Köcherfundamenten einspannt. Dazwischen liegen auf mehreren Ebenen die Haupt- und Nebenträger, auf ihnen die elementierten Deckenplatten. Da sich das markante Stahlbetongerüst erst nach und nach mit weiteren Wohnräumen füllen sollte, gab es zu Beginn nutzbare Räume genauso wie Leerstellen als Spielräume für später.
Das tragende Skelett im Dienste der räumlichen Ungebundenheit ermöglichte offene und dadurch grosszügig wirkende Räume auf versetzten Wohnebenen. Was von aussen wie ein technisch motivierter Industriebau aussieht, ist im Inneren in sieben reihenhausartige Abschnitte zum Wohnen und Arbeiten unterteilt. Dass es sich dennoch nicht um Reihenhäuser handelt, war Otto Steidle stets wichtig zu betonen: Nicht die Wiederholung war sein Motiv, sondern die Variation von Regeln innerhalb einer räumlichen Struktur. Die Fassade macht die Auswirkungen dieses Gedankens am deutlichsten. Streng gerastert und farbig verspielt zugleich sorgt sie hinter gelben und grünen Paneelen für geborgene Ecken. Zum Garten und den Terrassen öffnet sie sich hingegen mit grossen Glasflächen. Das Aussen und das Innen verzahnen sich zu räumlich dichten und vielfältig belebten Übergangsbereichen.
Humanisierung des industriellen Bauens
Die modulare Bauweise ist an der Genter Strasse Zweck, nicht Ziel und das dem Bild nach Unfertige Programm. Es sollte die Bewohner anregen, sich das Haus baulich anzueignen und so mit dem Haus zu leben. Otto Steidle wohnte selber in einer der sechs Eigentumswohnungen. Nebenan hatte er seine Büroadresse. Später war nur noch das Architekturbüro da, das wuchs und sich im Haus Raum um Raum ausbreitete. Man baute dazu und veränderte, füllte dabei das Skelett mehr und mehr aus. Heute steht die Anlage unter Denkmalschutz. Geschützt ist auch ihre Veränderbarkeit. Die Evolutionsfähigkeit der ursprünglichen Idee zeigte Steidle im Abstand mehrerer Jahre mit drei weiteren Bauabschnitten in der unmittelbaren Nachbarschaft. Unverändert blieb dabei der Gedanke vom Garten als offener Parklandschaft. In ihr eingewachsen stehen die Häuser an Wegen und zwischen Bäumen. Von ihren Bewohnern werden sie als robuste, lebendige Organismen mit industriellen Genen geschätzt.
Bild: Klaus Kinold, München
Bild: Archiv Steidle + Partner, München
Bild: Archiv Steidle + Partner, München
Bild: a+t research group ©
Bild: ARCHIV STEIDLE + PARTNER, MÜNCHEN
Bild: Klaus Kinold, München
Bild: Klaus Kinold, München
Weitere Informationen
Die Autorin
Lucia Gratz ist selbständige Architektin und freie Autorin in Zürich. Sie forscht in der Arbeitsgruppe System und Serie des ICOMOS suisse zu Systembauten der Schweizer Nachkriegsmoderne. www.system-serie.ch
Literatur
Conrads, Ullrich; Sack, Manfred (Hrg.), REISSBRETT 3. Otto Steidle. Braunschweig, Wiesbaden 1985
Kossak, Florian (Hrg.), Otto Steidle. Bewohnbare Bauten. Structures for Living. Zürich 1994
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