Der Entwurf zur Habitat 67 wirkte wie eine der utopischen Grosswohnstrukturen der 1960er Jahre – als Wohngebäude ist sie bis heute ein Erfolg.
Foto: Timothy Hursley
Die Bilanz ist eindrücklich: Mit 50 Millionen Besuchern ist die Expo 1967 in Montreal bis heute eine der beliebtesten Weltausstellungen geblieben. Unter dem Motto «Man and his World» präsentierten sich zahlreiche Länder, darunter einige mit futuristisch anmutenden Pavillons: Die geodätische Kugel Richard Buckminster Fullers setzte für die USA Akzente, während der deutsche Pavillon mit einem experimentellen Zeltdach von Frei Otto architektonisch punktete. Abseits des Rummels auf dem Ausstellungsgelände war auf der anderen Seite des Sankt-Lorenz-Stroms ein ehemaliger Pier erschlossen worden. In der Cité du Havre, wie der schmale Streifen Land nun hiess, zeigten die Ausstellungsmacher mit der Überbauung Habitat 67 eine ungewöhnliche Lösung für Wohnfragen der Gegenwart. Der Entwurf zum hundert Meter langen Stufenbauwerk stammte vom jungen kanadisch-israelischen Architekten Moshe Safdie. Seine gebaute Antwort war ein zwölfgeschossiges, kleinteilig verschachteltes Gebilde, dessen Gliederung eine hohe Wohndichte ermöglichen sollte und seinen Bewohnern gleichzeitig Qualitäten eines eigenen Hauses bot.
Der Beitrag zur internationalen Leistungsschau behandelte nicht nur die Wohnbedürfnisse des Individuums, sondern in gleicher Weise die der urbanen Gemeinschaft. In der Breite einer Gasse führen auf der Ostseite des Gebäudes in jedem vierten Geschoss mit Plexiglas überdeckte Fussgängerwege. Im Wechsel mit den Wohnungseingängen weiten sich entlang dieser «sky streets» immer wieder Spiel- und Aufenthaltsbereiche auf. Läden und Büros im Erdgeschoss sollten in der städtischen Typologie des Habitatsdas öffentliche Leben fördern. Ihr Auto parkt die Bewohnerin ebenso ebenerdig, geschützt zwischen den Pfeilern des Komplexes. Der unmittelbar angrenzende Park lädt mit einem künstlichen Teich und der wuchernden Vegetation zum Verweilen ein.
Vielfalt mit modularem Gencode
Safdie liess das Habitat aus 354 vorfabrizierten Betonmodulen zusammensetzen. Darin fanden 158 Wohnungen mit einer Grösse von etwa 55 bis 160 Quadratmetern Platz. Die 15 verschiedenen Wohnungstypen aus ein bis drei Modulen reichen teils über zwei Geschosse, und durch ihre geschickt gestapelte Anordnung öffnet sich jede Wohnung nach drei Himmelsrichtungen. Zur einen Seite erweitert sich so der einfache Wohnquader auf eine Gartenterrasse, zur anderen blickt man auf den Fluss hinaus, und am Ende des Tages fällt das Abendlicht goldgelb in den Wohnraum. Durch die Vielfalt der Kombinationen des einen modularen Elements wirkt das Wohngebirge wenig regelhaft und erzeugt den Eindruck einer gewachsenen Baustruktur.
Potenziale der Vorfertigung
Das Habitat 67 steht heute auch für den Optimismus der Nachkriegsära, in der man wie selbstverständlich versuchte, den Herausforderungen der Zeit mit technologischem Fortschritt zu begegnen. Es erstaunt deshalb wenig, dass man den komplexen Bau zum Anlass nahm, die technischen Möglichkeiten der industriellen Vorfertigung für den Grosswohnungsbau auszuloten. Die montagefertige Produktion in der Fabrik und eine Herstellung in hohen Stückzahlen sollte eine Habitat-Wohnung für eine breite Mittelschicht erschwinglich machen. Auf der Baustelle stapelten Hebekräne die bereits mit Küchen, Bädern und Fensterrahmen ausgestatteten, 80 Tonnen schweren Betonquader versetzt aufeinander. Aus dem Bauprinzip heraus verdoppelten sich Wände und Böden, wodurch die Wohnungen akustisch getrennt wurden. Alle Bauteile, die Gehstege, die Liftschächte und die Einheiten selber tragen im dynamisch-rhythmischen Gesamtgefüge. Vorgespannter Beton und die Nachspannung der Elemente übersetzten ihren kühnen Balanceakt ins statisch Machbare.
Foto: Moshe Safdie Archive McGill University Montreal.
Foto aus Habitat 67, Ottwwa 1967
I try firstly to make buildings humane.
Moshe Safdie
Zeichnungen : Safdie Architects, Moshe Safdie Archive, McGill University Montréal
Foto: Moshe Safdie, aus: Mosche Safdie I, Victoria 2009
I want my buildings to take root and look as if they’ve always been there. It isn’t about pastiche or adapting what’s already there. It’s about trying to blend the future and the past.
Moshe Safdie
Foto: Thomas Ledl, Wikipadia
Zur Autorin
Lucia Gratz ist selbständige Architektin und freie Autorin in Zürich. Sie forscht in der Arbeitsgruppe System und Serie des ICOMOS suisse zum Schweizer Systembau der Nachkriegsmoderne. www.system-serie.ch
Weitere Beiträge von Lucia Gratz auf modulart.ch
> Serie und Variation – Jean Prouvés «Maison à Portiques»
> Verborgene Werte – Modulares Bauen der Schweizer Nachkriegsmoderne: Franz Füeg und Fritz Stucky
> Formstarke Struktursysteme – Modulares Bauen der Norditalienischen Nachkriegsmoderne: Angelo Mangiarotti
Schreiben Sie einen Kommentar
Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.