Das renommierte finnische Architekturbüro OOPEAA legt einen Schwerpunkt auf Forschung und Entwicklung. «Wir wollen Potenziale erkunden und optimale Lösungen finden, welche die sozialen wie auch die ökologischen Aspekte der Nachhaltigkeit unterstützen und langfristig wirtschaftlich effizient sind», meint Büro-Gründer Anssi Lassila. Modulart hat mit ihm gesprochen.
Bilder: OOPEAA / Jokotai
Sie haben ein innovatives Tool entwickelt – den Life Cycle Visualizer. Worum geht es dabei?
Anssi Lassila: Als wir mit der Arbeit am Projekt begannen, nannten wir das Tool einfach mal Lebenszyklus-Visualisierer. Um es jedoch klar von Programmen zu unterscheiden, die man für die Erstellung einer vollständigen Lebenszyklusanalyse eines Gebäudes verwendet, wollten wir klarstellen, dass unser Tool Vergleiche zwischen alternativen Materialwahlen möglich macht. Deshalb nennen wir es heute Jokotai – geformt aus den finnischen Wörtern «joko – tai», was «entweder – oder» bedeutet. Um seinen Charakter als Werkzeug zur Schnellbewertung zu betonen, haben wir zudem die Spezifikation «Material Impact Screener» mitaufgenommen.
Doch zu Ihrer Frage: Jokotai von OOPEAAA ist ein Werkzeug, mit dem sich die Umweltauswirkungen von strukturellen und materiellen Entscheidungen auf die Nachhaltigkeit eines Bauprojekts überprüfen lassen. Dieses Tool ermöglicht es Architekten also, das Bauvolumen eines Vorentwurfs zu skizzieren und die Umweltauswirkungen alternativer Materialwahlen zu vergleichen, um den frühen Entscheidungsprozess zu unterstützen.
Wir wollten kein Tool zur Erstellung einer vollständigen Lebenszyklusanalyse kreieren, sondern vielmehr ein webbasiertes Visualisierungstool schaffen, das in den frühen Phasen des Entwurfs verwendet werden kann – sprich: bevor Entscheidungen getroffen werden, die zu einem späteren Zeitpunkt die Durchführung einer vollständigen Lebenszyklusanalyse ermöglichen. Jokotai ist eine benutzerfreundliche, webbasierte Plattform, die eine Kommunikation ermöglicht und Nachhaltigkeitsthemen auf verständliche Weise visualisiert. Dabei werden Berechnungsmethode und Quellen vollständig transparent gemacht – dies, um den Lernprozess zu unterstützen.
Was bringt Jokotai Architekten?
AL: Dank Jokotai können sich Architekten bereits in den frühen Entwurfsphasen einen Überblick über die Umweltauswirkungen der Konstruktions- und Materialwahl verschaffen. Sie können das Tool also zur Diskussion und Bewertung von Entwurfsoptionen im Team nutzen. Gleichzeitig kann es eine wertvolle Unterstützung bei der Kommunikation mit technischen Planern und Bauherren sein. So bietet es eine detaillierte Aufschlüsselung der durch die Konstruktions- und Materialwahl verursachten Umweltauswirkungen. Das Tool visualisiert diese Auswirkungen in einer leicht verständlichen Weise, um auch die Kommunikation von Nachhaltigkeitsthemen mit Bauherren zu unterstützen. So ist Jokotai nicht nur ein Berechnungsinstrument für Umweltauswirkungen; es unterstützt auch einen kontinuierlichen Lernprozess, der das Bewusstsein für Schlüsselfragen der nachhaltigen Gebäudeplanung fördert.
Wie ist Jokotai aufgebaut?
AL: Jokotai basiert nicht auf einem bestehenden BIM-Programm. Es ist eine webbasierte Anwendung, die einen schnellen 3-D-Volumenentwurf und ein Werkzeug zur Folgenabschätzung bietet. Die Bewertung kann dabei in vier Schritten vorgenommen werden: Zuerst wird ein 3-D-Volumen des geschätzten Entwurfs erstellt, indem Breite, Tiefe und Höhe eines Gebäudes, die innere Strukturdichte, der Bautyp und der Öffnungsprozentsatz definiert werden. Danach können Materialien für die wichtigsten Gebäudeteile ausgewählt werden. In der Vergleichsansicht werden die Umweltauswirkungen der Struktur- und Materialwahl mit den Umweltindikatoren Treibhauspotenzial (GWP) und Primärenergie aus nicht erneuerbaren Ressourcen (PENRT) dargestellt. Ausserdem können alternative Materialien getestet und mit dem ursprünglichen Entwurf verglichen werden, indem sie auf eine identische Kopie des Gebäudes angewendet werden. Eine detaillierte Aufschlüsselung der Ergebnisse informiert schliesslich über die am meisten beitragenden Gebäudeteile, Ressourcentypen und Materialien und zusätzlich über den Produktionsfluss und das Recyclingpotenzial von Baumaterialien.
Wichtig sind aber auch Informationen zur Lebensdauer von Materialien.
AL: Genau. Zusätzlich zu den berechneten Umweltauswirkungen, die durch die Gewinnung und die Produktion von Baustoffen verursacht werden (Phase A1–3) liefert Jokotai auch Informationen über die erwartete Lebensdauer von Materialien, ihre Vor- und Nachteile für die Umwelt, den Produktionsprozess sowie ihr Recyclingpotenzial, einschliesslich des derzeit in Europa am häufigsten verwendeten Recyclingwegs. So enthält die aktuelle Version Informationen über 29 verschiedene Baumaterialien in den Kategorien Struktur, Fundament, Dämmung, Fassade, Boden und Dachmaterial.
Was war Ihre Motivation, ein solches Tool zu entwickeln, und wie kam es dazu?
AL: Als Architekten sind wir an den Prozessen beteiligt, die unsere gebaute Umwelt formen. Um unsere diesbezügliche Verantwortung ernst zu nehmen, sahen wir bei OOPEAA die Notwendigkeit, die Auswirkungen unserer Materialwahl auf die Nachhaltigkeit eines Bauprojekts besser zu verstehen. Statt uns nur auf unseren Instinkt und gemeinsame Überzeugungen zu verlassen, wollten wir also ein Tool schaffen, das uns hilft, unser Wissen über die Auswirkungen von Materialien durch eine Analyse verifizierter und zuverlässiger Daten zu vertiefen. Wir wollten in der Lage sein, die Auswirkungen alternativer Materialwahlen zu vergleichen, bevor wir unsere Entscheidung bezüglich der Materialien festnageln.
Heute gibt es eine Fülle von Instrumenten zur Bewertung der Nachhaltigkeit eines Gebäudes über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg. Diese Instrumente sind jedoch in erster Linie für die Durchführung einer Analyse eines Bauprojekts gedacht, wenn alle wichtigen Entscheidungen bereits getroffen wurden und der Entwurfsprozess bereits ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat. In der Praxis bedeutet dies, dass man zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zurückgehen und den Entwurf mit einem anderen Material neu beginnen kann. Als Ergänzung zu den bestehenden Ökobilanz-Tools hielten wir deshalb ein Tool für notwendig, das in einem frühen Stadium des Entwurfsprozesses schnell und einfach angewandt werden kann.
Darüber hinaus wollten wir ein Tool kreieren, mit dem wir die Auswirkungen der Materialwahl auf eine klare und verständliche Weise kommunizieren können – und zwar nicht nur im eigenen Team, sondern auch mit Kunden, Bauträgern und Behördenvertretern, die für Baugenehmigungen zuständig sind. Und schliesslich wollten wir das Tool auch international als Diskussionsplattform für nachhaltige Praktiken über unsere nordischen Erfahrungen in Finnland nutzen.
Wie lief die Zusammenarbeit?
Als Architekten befinden wir uns in einer besonderen Position, ein Tool zu kreieren, das den Bedürfnissen von Architekten gerecht wird. Der Weg der Zusammenarbeit mit Programmiererinnen und Designern von Benutzeroberflächen zur Schaffung eines webbasierten Bewertungswerkzeugs war für uns sehr interessant und hat sich auf jeden Fall gelohnt: Alle beteiligten Parteien konnten voneinander lernen. Wichtig war auch, dass wir unser Projekt mit dem Programm «Wachstum und Entwicklung aus Holz» des finnischen Umweltministeriums sinnvoll verbinden konnten – von ihm wurden wir auch finanziell unterstützt.
Bereichert hat den Prozess auch die Partnerschaft mit Obayashi, einem japanischen Bauunternehmen – sie hat unsere Perspektive über die europäische Erfahrung hinaus erweitert. Sie hat uns auch bewusst gemacht, dass die Art und Weise, wie Daten über die Auswirkungen von Materialien auf die Umwelt gesammelt und zur Verfügung gestellt werden, von Land zu Land sehr unterschiedlich ist. Das macht es manchmal schwierig, Daten zu vergleichen. Es zeigt aber auch, wie wichtig Transparenz ist, sowohl der verwendeten Datenquellen als auch der angewandten Berechnungsmethode. Transparenz war daher eines unserer wichtigsten Leitprinzipien bei der Schaffung von Jokotai.
Bietet Jokotai auch grafische Informationen über die Umweltauswirkungen von Materialien?
AL: Damit Entscheidungen basierend auf einem umfassenderen Verständnis der Auswirkungen getroffen werden können, wollten wir Informationen über Umweltschäden bereitstellen, die einige der üblicherweise verwendeten Baumaterialien verursachen. Deshalb ergänzen grafische Informationen über die Umweltbelastungen, die erwartete Lebensdauer und die Recyclingfähigkeit eines Materials die von Jokotai gelieferten Berechnungsergebnisse.
Die Bewertung der Umweltverträglichkeit von Baustoffen erfordert vom Hersteller eine transparente Kommunikation aller mit der Herstellung, der Lebensdauer und dem Nachleben verbundenen Auswirkungen. Derzeit enthält jedoch nur ein Bruchteil der in Europa hergestellten Baustoffe eine vollständige Umweltproduktdeklaration (EPD). Und in einigen Teilen der Welt sind Informationen über die Umweltauswirkungen eines Materials möglicherweise überhaupt nicht erforderlich. Das muss sich ändern, damit wir in die Lage sind, alle Auswirkungen im Zusammenhang mit der Gewinnung wertvoller Ressourcen sowie die Emissionen und die Abfälle, die während der Produktion bis zum Ende der Lebensdauer eines Produkts entstehen, vollständig zu kennen.
Weshalb konzentrierten Sie sich auf die ressourcenintensivsten Teile des Lebenszyklus eines Gebäudes?
AL: Die aktuelle Version unseres Jokotai Material Impact Screeners ist nur die allererste Iteration. In dieser ersten Version ist es möglich, die Auswirkungen von alternativen Materialwahlen im Fall von einzelnen Gebäuden zu analysieren. Wir haben uns entschieden, uns erst einmal auf die Phase zu konzentrieren, die nach dem Verbrauch von Betriebsenergie den ressourcenintensivsten Teil des Lebenszyklus eines Gebäudes darstellt – nämlich die Phase von der Rohstoffgewinnung bis zur Produktion der verwendeten Baumaterialien. Dies ist auch die Phase, in der der Architekt den grössten Einfluss auf die Entscheidungen hat, die sich auf die Nachhaltigkeit eines Gebäudes auswirken.
Wir wollen unser Instrument aber weiterentwickeln, um die Analyse grösserer Komplexe, mehrerer Gebäude oder ganzer Blöcke im Kontext eines bestimmten Standorts zu ermöglichen. Wir beabsichtigen auch, die Analyse auf den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes auszudehnen. Allerdings soll Jokotai weiterhin auf die Bedürfnisse der sehr frühen Skizzenphase des Entwurfsprozesses ausgerichtet bleiben. Jokotai soll dabei ein Kompass für die Richtung sein, keine Strassenkarte mit spezifischen Anweisungen.
Jokotai bezieht sich auf alle Arten von Konstruktionen und steht daher nicht per se für Modularität. Was halten Sie von Themen wie Vorfertigung, Systembau oder Modularität, welche die Ausgewogenheit eines Gebäudes beeinflussen?
AL: Der Wunsch, Lösungen zu finden, welche die natürlichen Eigenschaften des gewählten Materials ausnutzen und gleichzeitig den Bau- und Konstruktionsprozess optimieren, hat meine Arbeit von den ersten Projekten an geprägt. Schon immer habe ich mich für die besonderen Eigenschaften und Qualitäten der verschiedenen Materialien interessiert, und es ist nicht nur Holz, das mich inspiriert. Die Wahl des Materials muss immer sorgfältig abgewogen werden, um dem Kontext und den Bedürfnissen des jeweiligen Bauprojekts am besten gerecht zu werden. Dieses Interesse daran, Wege zu finden, den Materialeinsatz zu optimieren und Lösungen zu schaffen, die architektonisch und technisch nachhaltig sind, hat zu unserer Beteiligung an Pilotprojekten geführt, um neue Bauweisen zu testen, wie im Fall des «Puukuokka»-Wohnblocks. Es hat auch zu Forschungs- und Entwicklungsprojekten wie dem Entwicklungsprojekt für Jokotai geführt.
Mein Interesse an der Erforschung des Potenzials verschiedener Materialien hat auch zur Arbeit mit Holz in verschiedenen Massstäben und in verschiedenen Formen geführt. Meine persönliche Erfahrung als Architekt mit Holz deckt ein breites Spektrum ab – von der Anwendung der traditionellen Bauweise mit handgeschnitzten Baumstämmen wie in der «Kärsämäki»-Kirche oder in der «Lonna»-Sauna über die Verwendung vorgefertigter volumetrischer CLT-Module (CLT siehe Glossar) wie im «Puukuokka»-Block und im «Pihapetäjä»-Gehäuse bis hin zur Arbeit mit CLT-Elementen im Gesamtkonzept für die «Allas Sea Pool»-Familie. Holz hat als Baumaterial mehrere wichtige Vorteile: Es ist nicht nur ein lokal verfügbares, erneuerbares und wiederverwertbares Material, sondern lässt sich auch leicht modular verarbeiten. Selbst die traditionelle Blockstruktur funktioniert wie ein System wiederverwendbarer Bauelemente, die hinzugefügt oder auseinandergenommen und an einem anderen Ort oder in einer anderen Reihenfolge wieder zusammengesetzt werden können. In ähnlicher Weise können die vorgefertigten volumetrischen Module aus CLT zerlegt und wieder zusammengebaut werden. So bieten sie die Möglichkeit der Wiederverwendung für eine andere Funktion oder einen anderen Standort.
Die Vorfertigung und die Verwendung von Modulen birgt ein grosses Potenzial für die Entwicklung neuer Systeme von flexibel anpassbarer Modularität, um variable, effiziente und nachhaltige Lösungen für den städtischen Wohnungsbau anzubieten. In meiner Arbeit als Architekt interessiere ich mich dabei besonders für die Möglichkeit, durch die geschickte Anwendung vorgefertigter Module Variabilität und Flexibilität zu schaffen, um den Bedürfnissen jedes einzelnen Projekts am besten gerecht zu werden. Ich bin mir jedoch auch bewusst, dass die Verwendung vorgefertigter Modullösungen leicht zu einem monotonen Endergebnis führen kann, welches das Potenzial für Flexibilität und Variabilität verfehlt.
Und schliesslich: Welche Erfahrungen haben Sie bis jetzt mit Jokotai gemacht?
AL: Nach einer äusserst interessanten und inspirierenden Reise von fast zwei Jahren der Zusammenarbeit mit Leuten, die Experten auf dem Gebiet der Programmierung und des Designs von Benutzeroberflächen sind, befinden wir uns aktuell in der spannenden Phase der Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Testnutzern. So sind wir gerade dabei, ihr Feedback einzuholen, das uns bei der Feinabstimmung der aktuellen Version des Werkzeugs und bei der Planung der nächsten Schritte zur Weiterentwicklung des Werkzeugs helfen soll.
Modulart wird an Jokotai dranbleiben und zu einem späteren Zeitpunkt wieder über das Tool berichten.
Anssi Lassila
geboren in Soini Finnland (1973), ist Architekt, kreativer Kopf und Gründer des finnischen Architekturbüros Office for Peripheral Architecture (OOPEAA). Mit dem Entwurf für die Kärsämäki Shingle Church im Jahr 2004 wurde das Büro international bekannt. Die Entwürfe von OOPEAA sind stets geprägt von einer Kombination aus skulpturaler Form, dem Handwerk mit traditionellen Materialien, innovativen Technologien und dem Fokus auf eine umfassende Nachhaltigkeit.
Die Arbeit von OOPEAA wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Finlandia Prize for Architecture und dem Wood Architecture Award 2015, dem Canadian Wood Design and Building Award 2016 sowie dem American Architecture Prize 2016 in zwei Kategorien. Die Arbeit des Büros wurde auch wiederholt für die Shortlist des Mies van der Rohe European Prize for Architecture ausgewählt und 2019 dafür nominiert.
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