Während die renommierte Kunsthalle Tallinn renoviert wird, lockt ein temporärer Ausstellungspavillon Kunstinteressierte in die Peripherie der Stadt. Er soll auch einen Dialog zwischen den verschiedenen Teilen der Bevölkerung anstossen. Für ihr Engagement als visionäre kulturelle Brückenbauerin erhält die Kunsthalle Tallinn den Prix Kunst und Ethik.

Fotos: Tönu Tunnel

Der pinke Elefant ist hier klar der Fremdkörper. Und da er nur ein kleiner Elefant ist, «nicht höher als sieben Meter», sagt die Architektin Maarja Kask in einem Interview, «können die Wohnhäuser auf ihn herunterschauen.» 

Der Elefant ist in Wirklichkeit ein pinkes, eingeschossiges Holzgebäude mit kubischem Grundriss und Innenhof. Sein begrüntes Flachdach neigt sich einer sechsspurigen Strassenschneise zu. Auf der strassenabgewandten Seite umringen hohe Wohntürme den Bau. Mit ihren gedämpften Farben – von Grauweiss über Schmutzgelb und Blassorange bis zu Rotbraun – fügen sie sich fast harmonisch ins vorstädtische Ödland ein. Der pinke Elefant ist hier klar der Fremdkörper. Und da er nur ein kleiner Elefant ist, «nicht höher als sieben Meter», sagt die Architektin Maarja Kask in einem Interview, «können die Wohnhäuser auf ihn herunterschauen». 

Die Gebäude, von denen hier die Rede ist, stehen in Lasnamäe, einem peripheren Stadtteil von Tallinn. Obwohl gut ein Viertel der städtischen Bevölkerung – rund 120 000 Menschen – dort lebt, gibt es wenig Austausch mit dem Zentrum. Dies hat einerseits mit der intakten Quartierinfrastruktur zu tun. In Lasnamäe gibt es alles, was man zum Wohnen braucht: Kindergärten, Schulen, Spielplätze, Geschäfte. Zum anderen ist die Absonderung kulturell bedingt: 75 Prozent der Bewohner sind russischsprachig und haben wenig Zugang zur zeitgenössischen estnischen Kultur. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat sich diese Entfremdung eher noch verschärft. 

Brücken bauen, Menschen verbinden

Der pinke Kubus soll dies nun ändern. In erster Linie ist er ein temporärer Pavillon für zeitgenössische Kunst, solange die Kunsthalle im Zentrum der Stadt saniert wird. Dass die Pop-up-Kunsthalle ausgerechnet vor sowjetischen Wohnbauten im kulturell unbefleckten Lasnamäe aufgebaut wurde, ist dennoch kein Zufall. Die Verantwortlichen wollten damit auch eine (Kunst-)Brücke zwischen den Menschen bauen und diesen Mikrobezirk aus der Sowjetzeit besser in den städtischen Kontext integrieren. Ganz nach dem Motto: Wenn die Menschen nicht in die Kunsthalle kommen, kommt die Kunsthalle zu ihnen.

Salto Architekten, die den Kunstpavillon entwickelten, sind in Tallinn keine Unbekannten. Bereits 2011, als Tallinn Kulturhauptstadt Europas war, errichteten sie für die Stadt ein temporäres Theater. Da man bereits einmal erfolgreich zusammengearbeitet hatte, machten der Kunsthallendirektor Paul Aguraiuja und sein Team den Architekten nur wenige Vorgaben: Das Gebäude musste eine Ausstellungsfläche von 500 Quadratmetern bieten, sollte nachhaltig gebaut und wiederverwendbar sein. Finanziert hat den Bau das estnische Kulturministerium als Teil des Sanierungsprojekts.

Von der ersten Idee bis zum fertigen Bau verstrichen nur zehn Monate. Nach der Planungsphase brauchte es rund fünf Monate, um die Elemente vorzufabrizieren, aufgebaut waren sie innert zwei Monaten. «Es wäre noch schneller möglich gewesen», sagt Paul Aguraiuja, «aber es war Herbst, und der Wind blies ziemlich stark.»

Seit zwei Jahren steht der pink gestrichene Pavillon nun auf Betonblöcken, die auf dem bestehenden Asphaltbelag platziert wurden. Eine schwarze, perforierte Blechabdeckung im Sockelbereich hält Tiere davon ab, unter das Gebäude zu kriechen. Die Dimensionen des Baus wurden für die Holzproduktion optimiert. Mit sechs Metern Breite konnten die Planer sicherstellen, dass die verleimten Holzträger ohne Metallverbindungen auskommen; und dank des quadratischen Grundrisses mussten nur wenige unterschiedliche Elemente vorfabriziert werden. Das verwendete Fichtenholz stammt aus estnischen Wäldern, auf dem Dach des Pavillons wächst Dickblattgewächs, das wenig Pflege und Wasser benötigt. 

An seinem aktuellen Standort wird der temporäre Bau bleiben, bis die Kunsthalle 2026 im Stadtzentrum wieder eröffnet. Vielleicht auch länger. Die Architektin Maarja Kask, die selbst in Lasnamäe aufgewachsen ist, hegt die Hoffnung, dass Tallinns Bevölkerung den Kulturort im Aussenquartier so liebgewinnt, dass er dauerhaft bleibt. 

Zwei Jahre nach Eröffnung des Pavillons wird die Kunsthalle Tallinn für ihr Engagement als visionäre kulturelle Brückenbauerin mit dem Prix Kunst und Ethik geehrt. Der Kunstpreis, den der Schweizer Künstler George Steinmann 2014 initiiert hat und der 2024 zum vierten Mal verliehen wird, ist mit 20 000 Euro dotiert. Anlässlich der Preisverleihung am 16. November in der Kunsthalle Bern konnte Modulart mit George Steinmann und Paul Aguraiuja, dem Direktor der Kunsthalle Tallinn, sprechen.

Tallinn Art Hall Pavilion, 2022
Jaan Koorti Street 24, Lasnamäe, Tallinn
Bauherrschaft: Kunsthalle Tallinn
Architektur: Salto Architekten, Maarja Kask, Ralf Lõoke, Margus Tamm
Kosten: ca. Euro 500 000.–

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