Wie kann man die Bevölkerung dazu ermuntern, sich einen öffentlichen Raum wieder anzueignen, der seit Urzeiten vom Straßenverkehr dominiert wird? Die Stadt Aigle hat ein originelles Experiment gewagt, um ihren Marktplatz wieder zum Leben zu erwecken.
Pläne und Bilder: ©rotative studio
Aigle ist eine charmante Waadtländer Gemeinde mit wenig mehr als 10.000 Einwohnern. Sie liegt im Herzen der Region Chablais am Fuss des Plantour und unweit von Drapel und ist umgeben von Weinbergen hangseits und Ackerflächen gegen das Rhonetal. Diese idyllische Umgebung konnte jedoch nicht verhindern, dass der Marktplatz im Zentrum der Stadt nach und nach von Autos und Parkplätzen besetzt wurde. Nach Jahrzehnten autogerechter Stadtentwicklung hat die Gemeinde 2019 endlich beschlossen, den Platz wieder für Fußgänger und für den Langsamverkehr freizugeben. Sie lancierte einen Masterplan zur Aufwertung des Stadtzentrums – insbesondere des Marktplatzes.
Und weil die Behörden für diese Übergangsphase ein besonderes Zeichen setzen wollte, wandten sie sich an die beiden Architektinnen von rotative studio, Alexandra Sonnemans und Caterina Viguera. Sie beauftragten das Architekturbüro, eine temporäre Lösung zu entwerfen, die den Marktplatz beleben und den Austausch zwischen der Bevölkerung und den Behörden anregen sollten. Für die Architektinnen war dieser Auftrag nicht der erste dieser Art. Für das Festivals La Dérivée in Yverdon-les-Bains entwarfen sie einen kreisförmigen Pavillon mit einem Durchmesser von 26 m, der zwischen 2017 und 2022 als Begegnungsraum diente. Das Projekt gestaltete sich als ein sich ständig wandelndes Forschungs- und Experimentierfeld, das sich kontinuierlich den Bedürfnissen und Wünschen der Nutzer anpasste: einmal diente das Pavillon als Sommerbar, dann als Bibliothek, als Theater- und Musikbereich, als Ort für Workshops oder einfach als schattiger Begegnungsraum. Er wurde von Gross und Klein aus Yverdon und Umgebung äusserst geschätzt… und hat schliesslich den Behörden der Gemeinde Aigle den Floh ins Ohr gesetzt.
Ein Turm, eine Bibliothek und ein Theater
Einerseits ging es beim Marktplatzprojekt darum, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung zu erregen andererseits den Aneignungsprozess eines öffentlichen Raums einzuleiten. Alexandra Sonnemans und Caterina Viguera überzeugten die Behörden davon, auf die Synergien, die sich aus der Verbindung von drei Pavillons aus modularer Holzkonstruktion ergeben, zu setzen. Als Dreisamkeit bilden die Pavillons einen lebendigen und anpassbaren Raum auf dem Marktplatz. Die lebhaften Farben ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und wecken den Wunsch, sich den Objekten anzunähern. Die großen runden oder rechteckigen Öffnungen lenken den Blick ins Innere und laden dazu ein, die Pavillons zu betreten. Aus dem Inneren verliert man den umliegenden Marktplatz nie aus den Augen. Zudem laden maßgeschneiderte Möbel zum Verweilen ein.
Der erste Pavillon ist in zwei Rottönen gehalten und zieht schon von weitem die Aufmerksamkeit auf sich. Es handelt sich um ein Observatorium, das sich über zwei Stockwerke hinzieht. Über eine Innentreppe gelangt man in den oberen Stock, von wo aus man einen Überblick über den Platz gewinnen kann. Der zweite, etwas größere blau-grün-rote Pavillon lädt mit seiner Bücherwand zum Lesen ein. Beim dritten und grössten Pavillon handelt es sich um ein Theater. Dessen Grüntöne sind von roten Linien durchzogen, und er wird Dank einer großen runden Öffnung in einer Fassade sowie dem zum Himmel hin offenen Oberlicht mit natürlichem Licht durchflutet. In der Nacht beleuchtet eine in die Wände integrierte LED-Beleuchtung subtil das Innere der drei Pavillons.
Jeder der Pavillons fördert eine bestimmte Art von Aktivitäten. Nichts hindert einem jedoch daran, sie je nach Bedürfnissen der der Bevölkerung umzunutzen. Die Inneneinrichtungen wurde so konzipiert, dass sie der Improvisation freien Lauf lässt: Die Bibliothek kann für öffentliche Lesungen oder Apéros genutzt werden, das Theater bietet Raum für Ausstellungen oder Workshops. „Wir haben eine Art Pavillonfamilie kreiert: Die Farben sind aufeinander abgestimmt, und wir haben auf die Vielfalt der Nutzungsarten geachtet haben, ohne den ständigem Dialog mit dem umliegenden Platz ausser Acht zu lassen“, lächelt Alexandra Sonnemans.
Modularität und Nutzungsvielfalt
Die drei Pavillons weisen eine Tragstruktur aus Stahl auf; die Wände bestehen aus Sperrholz. Sie wurden von einem Familienunternehmen aus der Region, Guarnaccia Constructions, vorgefertigt und zusammengebaut. Das Unternehmen hat alles daran gesetzt, die Pavillons bis ins kleinste Detail zu perfektionieren. Die Objekte sind einfach auf- und abbaubar und können bei Bedarf problemlos an einen anderen Standort transportiert werden. In Aigle dienen sie vorwiegend als Markierungen für eine städtebaulichen Übergangsphase, eignen sich aber gleichzeitig auch für andere zwischenzeitliche Nutzungen. Die Reaktionen darauf waren sowohl auf lokaler, als auch auf nationaler und internationaler Ebene durchwegs positiv, und das Projekt wurde zu einem Modell, das rotative studio in anderen Kontexten und Städten weiterhin testet und weiterentwickelt.
Wir haben eine Art Pavillonfamilie kreiert: Die Farben sind aufeinander abgestimmt, und wir haben auf die Vielfalt der Nutzungsarten geachtet haben, ohne den ständigem Dialog mit dem umliegenden Platz ausser Acht zu lassen.
Alexandra Sonnemans, Architektin rotative studio
ALLGEMEINE INFORMATIONEN
Betrifft: Three Pavillons: Observatory-Theatre-Library (Drei Pavillons: Observatorium-Theater-Bibliothek)
Standort: Place du Marché in Aigle, Schweiz
Architekten: rotative studio (Alexandra Sonnemans & Caterina Viguera)
Auftraggeber: Gemeinde Aigle, Abteilung für Stadtplanung, Mobilität und Landschaft
Fertigstellung: Ende 2019-2021
Bauingenieur: Álvaro Romera Martinez (Estk Estudio/Lambda Edificación)
Material: Stahlkonstruktion und Fassaden aus Fichtenholzplatten (27 mm), Böden aus Lärchenholz (30 mm), Aluminiumabschlüsse.
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