Vasen und Wohnbauten, Marmortische, Kirchen, Glashängeleuchten und vorgespannte Tragwerke umfassen das vielseitige und umfangreiche Werk Angelo Mangiarottis.

Als junger Mailänder Architekt und Designer begann er in den 1950er Jahren zeitgemässe Typenmöbel zu entwerfen, die er bis zur Produktionsreife weiterentwickelte. Geleitet von seinem Interesse für modulare Bausysteme, lernte er während eines einjährigen Aufenthalts am Illinois Institute of Technology Konrad Wachsmann kennen und studierte dort die Bauten Mies van der Rohes genauso, wie er sich von der allgegenwärtigen amerikanischen Industriekultur inspirieren liess. 1954 aus Chicago zurückgekehrt, machte er die Idee des industriellen Produktionsprozesses zur Grundlage seiner formstarken Bauten.

Die Kirche von Baranzate – ein Kraftakt

Erste Anzeichen davon trägt die 1957 in Zusammenarbeit mit Bruno Morassutti errichtete Kirche von Baranzate: Ihr weit auskragendes, rechteckiges Dachtragwerk aus Stahlbeton ist ein Kraftakt auf vier Rundpfeilern. Die je 30 Formsteine der längs gerichteten Nebenträger wurden wie die Perlen einer Halskette durch Löcher in ihrem X-förmigen Querschnitt vor Ort auf Vorspannkabel gefädelt und stirnseitig vermörtelt. Im Zusammenspiel mit den unterseitig ausgekreuzten Dachelementen wirkt der Dachhimmel modular strukturiert. Die milchige Glasfassade, deren liegender Raster aus verzinkten Stahlprofilen die Abstände aus der Dachkonstruktion übernimmt, bekräftigt diesen Eindruck für den gesamten Kirchenraum. Dass der Bau mit seiner Unterkirche, den Pfeilern und Unterzügen aus grob geschaltem Ortbeton in Wahrheit weitgehend konventionell gedacht und hergestellt worden war, tritt dagegen in den Hintergrund.

Betonmodule wie Vogelskelette

Mangiarottis Struktursysteme der 1960er Jahre führen auf elaborierte Art fort, was in Baranzate experimentell vorbereitet worden war. Im FM System Lissone, U70 Isocell oder im Facep Bussolengo wurde die Anzahl der unterschiedlichen Stahlbetonmodule auf die Grundelemente Stütze, Träger, Deckenelement verdichtet. Die Produktionseinheiten für die Vorfertigung waren damit genauso definiert wie die architektonische Ordnung der gerichteten Hallenbauten. Durch die Filigranität ihrer gerundeten Querschnitte wirken die innert weniger Tage in situ gefügten Strukturen leicht wie Vogelskelette. Auf robusten, mit Nuten versehenen Pfeilerköpfen aufgelegt, überbrücken die vorgespannten Balken Stützabstände bis zu 20 Metern. Geringe Wölbungen stabilisieren die hauchdünnen, mit schmalen Rippen verstärkten Deckenelemente der um beliebig viele Stützenfelder modular erweiterbaren Bauten.

Nach dem Prinzip der Schwerkraft

Ob Fabrikhalle, Ausstellungspavillon oder Kirche – Mangiarotti wendete seine strukturellen Systeme auf unterschiedliche Bauaufgaben an und entwickelte sie dabei weiter. Was er für jeden Konstruktionstyp beibehielt war das Schwerkraftsprinzip: Um die auf Pfeilern ruhenden Balken und Deckenelemente in Position zu halten, genügt das Eigengewicht. Wie universal es Mangiarotti einsetzte, zeigt seine 1967 entstandene Glasarbeit V+V, aus deren Grundmodul später die Hängeleuchte Giogali wurde. Zu immer gleichen Haken gebogene Glasschlaufen werden ineinander gehängt und baumeln auf zeitgenössischen Bildern als Leuchte oder Raumtrenner von den Decken Mailänder Wohnzimmer. Da ein Glashaken bis zu 50 weitere tragen kann, lassen sich ganze Vorhänge daraus knüpfen.

Grandezza auf der Baustelle

Genauso wie Mangiarotti formstarke Gebrauchsgegenstände in moderne Wohnstuben brachte, kam mit dem Fügen der gerundeten Betonelemente Grandezza auf seine Baustellen. Mit einer Bildsprache, die auch heute noch ehrfürchtig macht, fing Giorgio Casali auf ausdrucksstarken Schwarzweiss-Fotografien präzise die Momente ein, in denen Mangiarottis Bauwerke begannen ihre Kräfte zu entfalten.

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Bildnachweis:
Bausysteme von Angelo Mangiarotti, Hg. Thomas Herzog, Darmstadt 1998.
Angelo Mangiarotti. La tettonica dell’assemblaggio, Hg. Franz Graf, Francesca Albani, Mendrisio 2015.
Angelo Mangiarotti. Complete works, Hg. Francois Burkhardt, Mailand 2010.
Studio Mangiarotti, Mailand

Zur Autorin

Lucia Gratz ist selbständige Architektin und freie Autorin. Sie forscht seit 2015 im Rahmen der ICOMOS Arbeitsgruppe System und Serie zu Schweizer Bausystemen der Nachkriegsmoderne.