Fast siebzig Millionen Menschen hatten 2018 wegen Konflikten, Verfolgung oder Gewalt ihre Heimat verlassen. Hinzu kommen Naturkatastrophen, die Landschaften und ganze Dörfer zerstören. Gut gemachte temporäre Behausungen bieten Obdachlosen Schutz vor Witterung und eine neue Heimat auf Zeit.
Bild: The Refugee Nation
Die kräftig orangefarbene Flagge mit einem schwarzen Streifen im unteren Drittel wehte an den Olympischen Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro zum ersten Mal. Sie begleitete ein Team von zehn geflüchteten Athletinnen und Athleten aus verschiedenen Ländern. Auf Initiative des NGO Refugee Nation hatte eine syrische Künstlerin die Flagge entworfen: Sie erinnert in Form und Farbe an die Rettungsweste, die viele Menschen bei ihrer Flucht übers Meer tragen; ein syrischer Musiker komponierte für die heimatlose Mannschaft eine Hymne.
Fahne und Hymne sind heute über die Olympischen Spiele hinaus ein Symbol für die weltweit 68,5 Millionen Menschen, die wegen Konflikten, Verfolgung oder Gewalt ihre Heimat verlassen mussten. 3,1 Millionen Asylsuchenden stehen 25,4 Millionen Flüchtlingen entgegen, davon sind die Hälfte unter 18 Jahren alt. 57 Prozent aller Flüchtlinge kommen aus drei Ländern: Südsudan (2,4 Mio.), Afghanistan (2,6 Mio.) und Syrien (6,4 Mio.). 85 Prozent suchen in Ländern nahe ihrer Heimat Zuflucht; mitunter die wichtigsten Gastländer sind die Türkei (3,5 Mio.), Uganda und Pakistan (je 1,4 Mio.), Libanon (1 Mio.) und Iran (980 000; alle Zahlen gemäss UNHCR, Juni 2018).
Die grössten menschlichen Dramen spielen sich also fern von Europa und den USA ab, was angesichts der politischen Debatte und der aktuellen Tendenz der westlichen Staaten, sich abzuschotten, oft vergessen geht. Wo Staaten versagen, ihnen der gesellschaftliche Konsens oder die Mittel fehlen, treten NGOs an ihre Stelle, um geflüchtete Menschen im Ankunftsland zu unterstützen.
Shigeru Bans Emergency Shelters
Noch für kurze Zeit zeigt die Ausstellung «Social Design» im Museum für Gestaltung Zürich einige solcher Projekte. Direkt neben der Fahne des Refugee Olympic Team steht etwa ein Prototyp der «Paper Emergency Shelters», die Shigeru Ban Ende der Neunzigerjahre für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) entwickelte, nachdem in Ruanda der Konflikt zwischen zwei Ethnien ausgebrochen war. Das Gerüst aus günstigen Kartonrohren aus Recyclingmaterial kann mithilfe von Verbindungsstücken einfach und schnell zusammengesteckt und mit Heringen im Boden verankert werden, darübergezogene, robuste Plastikplanen bieten Schutz vor der Witterung. Die Paper Emergency Shelters kamen 2008 in Sri Lanka und 2010 in Haiti erneut zum Einsatz. Die Kartonrohre, heute Bans Markenzeichen, verwendete der japanische Architekt aber bereits für das «Paper Log House», das er 1995 für seine Landsleute entwickelte, die beim Erdbeben von Kobe ihr Haus verloren hatten. Auf einem Fundament aus leeren, mit Sandsäcken beschwerten Kirin-Bierkisten wurden Wände aus Kartonröhren gestellt. Kartonrohre spannten auch das Dach auf, das mit einem robusten, weissen Textil überzogen wurde. Ban, der 2014 für sein Werk und insbesondere seine «Humanitarian Architecture» mit dem Prizker-Preis ausgezeichnet wurde, sagte über das erste Paper Log House, es sei die komplizierte Konstruktion, die er jemals entwickelt habe. Trotzdem konnte ein Team von Freiwilligen es innert sechs bis zehn Stunden aufbauen. Auch in der Türkei (2000) und in Indien (2001) kam das temporäre Haus zum Einsatz, als Erdbeben eine halbe Million respektive 300 000 Menschen obdachlos gemacht hatten. Für die Menschen auf der philippinischen Insel Cebu, deren Häuser der Taifun Yolanda im November 2013 hinweggefegt hatte, vereinfachte der Architekt das Haus, indem er es mit seinem «Paper Partition System» kombinierte. Auf die Bierkistenbasis kamen Bodenplatten aus Kokosnuss- und Sperrholz. Aus Kartonrohren bestand nur noch die tragende Struktur, die als Rahmen für Platten aus gewobenen Bambusblättern diente. Dasselbe Prinzip fand in Ecuador nach dem Erdbeben im April 2016 Anwendung. In einem Flüchtlingslager in Turkana, Kenia, wurde das Paper Log House 2017 auch mit Wänden aus Ästen errichtet. Shigeru Bans temporäre Bauten zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie sich mit einfachen, lokal verfügbaren Materialien von Freiweilligenteams aufbauen lassen und dank wenigen, formal schönen Details nicht nur den allernötigsten Schutz, sondern auch Raum zum Wohnen bieten.
Better Shelter
Etwas funktionaler und technischer kommen die Behausungen von Better Shelter daher, die das schwedische NGO mit UNHCR und der Ikea Foundation ab 2010 entwickelte. Seit 2015 kommen die 17,5 Quadratmeter grossen, weissen Häuschen in Flüchtlingslagern und Katastropheneinsätzen in Europa, Afrika, Asien und im mittleren Osten zum Einsatz. Angeliefert werden sie – man würde es vom Partner Ikea nicht anders erwarten – in zwei Kartonkisten, die auch alle notwendigen Werkzeuge und ein Manual enthalten. Zum Aufbau gilt die Formel 4 x 4: Vier Leute braucht es, um die beiden Boxen zu heben, und innert vier Stunden sollen sie, vorausgesetzt es ist etwas technische Affinität vorhanden, das Haus aufstellen können. Das Fundament aus Stahl wird im Boden verankert, darauf wird das Dach mit integrierter Ventilation und Solarpanel gestellt; dann werden die Wände mit Fenstern und Türen eingesetzt. Dach und Wände sind aus gehärtetem Poliolefin und mit einer UV-Schutzschicht versehen. Die Behausungen eignen sich deshalb für Umgebungstemperaturen von fünf bis vierzig Grad. Das Solarmodul kann die mitgelieferte Leuchte während sechs Stunden versorgen und lädt auch die Handys seiner Bewohner.
Storm Board Emergency Shelter
Schwarz statt weiss sind die Storm Board Emergency Shelter, welche die University of Bath zusammen mit dem Unternehmen Protomax zurzeit entwickelt. Wände und Dach der 3,6 mal 4,8 Meter grossen Behausungen sind aus Recyclingplastik gefertigt. Sie können flach auf Paletten verpackt, gut gelagert und wenn nötig in Krisengebiete verschoben werden. Für eine grössere Familie könnten auch mehrere Shelters miteinander verbunden werden.
Die Forscher der University Bath haben mit den Storm Boards zweierlei im Sinn: Zum einen einfache, wetterfeste Unterkünfte für Menschen in Not schaffen; zum anderen den Plastikmüll, den wir täglich produzieren, sinnvoll wiederverwenden; besonders die Plastikinseln, die in unseren Weltmeeren umherschwimmen. Es werden deshalb auch Überlegungen angestellt, ob man die Panels direkt auf einem Schiff fertigen könnte, das den Plastik aus dem Ozean fischt. Storm Board ist Teil eines grösseren internationalen Forschungsprojekts des Engineering and Physical Sciences Research Council (EPSRC).
Shigeru Bans temporäre Bauten zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie sich mit einfachen, lokal verfügbaren Materialien von Freiweilligenteams aufbauen lassen.
PROJEKTDATEN
Shigeru Ban
Paper Emergency Shelter for UNHCR, Ruanda, 1999
Material: Kartonrohre; Verbindungsstücke und Heringe aus Plastik, Kabelbinder, Seil, Plastikplane
Paper Log House, Kobe, 1995
Material: Kartonrohre, Bierkisten, Sandsäcke, Holz, Seil, Plane
Better Shelter, in Kooperation mit UNHCR und IKEA Foundation, seit 2010
Masse: 5,68 x 3,32 m (17,5 m2), 2,83 m hoch
Material: Polyolefin-Panel, Stahl, Polymerplastik
Storm Board* Emergeny Shelter, ein Forschungsprojekt der University Bath und Protomax
Masse: 3,6 x 4,8 m
Material: Recyclingplastik
*Storm Board™ sind grossformatige Kunststoffplatten aus hundert Prozent rezycliertem Plastikabfall, hergestellt nach einem patentierten Verfahren. In der Schweiz wird das innovative Material durch die Firma UpBoards GmbH in Buchs vertrieben.
UpBoards ist eine Tochter des Startup-Unternehmens BOXS AG, das modulare Raumkonzepte in Leichtbauweise entwickelt.
Quellen:
Ausstellung «Social Design», Museum für Gestaltung, Toni-Areal, Zürich, bis 3.2.2019
Begleitpublikation «Social Design», hrsg. Museum für Gestaltung, Zürich 2018
Shigeru Ban, Humanitarian Architecture, Aspen Art Museum, 2014
UNHCR
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