2050 werden zwei von drei Menschen in einer Stadt leben. Das bedeutet, dass BewohnerInnen und Behörden von urbanen Räumen sowie die Baubranche schon heute gefordert sind, zukunftsfähige und lebendige Areale zu entwickeln. Wir trafen Matthias Tobler, einen der Gründer der bottom-up-Bewegung Urbane Dörfer, die das grosse Thema angeht.
Urbane Dörfer will Rohmodell und Lernexperiment für die beteiligten Personen und zukünftigen Baugemeinschaften sein
Matthias Tobler, Unternehmer, Ecosystem und Community Builder
Herr Tobler, wer steht hinter «Urbane Dörfer»?
Matthias Tobler: Hinter «Urbane Dörfer» steht ein interdisziplinäres Kollektiv von Dorfpionieren und eine wachsende Community.
Weshalb haben Sie Ihre Initiative lanciert?
MT: Einmal, weil uns schlicht die eigenen Bedürfnisse antreiben. Wir stellen uns die Frage, wie wir leben wollen und wie ein gutes und verantwortungsvolles Leben in Bezug auf das Wohnen, die Mobilität, Architektur und Ernährung aussehen kann. Wir wollen gemeinschaftlicher und suffizienter leben. Bei einem herkömmlichen Lebens- und Wohnstil sehen wir kaum Antworten auf unsere Bedürfnisse nach Lösungen für persönliche, gesellschaftliche und globale Probleme. Heute leben wir separiert, ressourcenintensiv und oft im Widerspruch zu den eigenen Werte- und Lebensvorstellungen. «Urbane Dörfer» verstehen wir als eine Bottom-up-Bewegung für lebendige und enkeltaugliche Lebensräume im urbanen Kontext. Wir wollen gelebte, selbstbestimmte und kollaborative Nachbarschaften entwickeln.
Was macht «Urbane Dörfer» denn aus?
MT: Wie gesagt, verstehen wir uns als eine Bottom-up-Bewegung. Uns gibt es also nur, weil sich Menschen engagieren, die eine Veränderung wollen. Wir bauen daher immer zuerst die Gemeinschaft, bevor wir einen Entwicklungsprozess für ein Gebäude starten. Zudem haben wir viel in einen integral-evolutionären Prozess investiert. Er verbindet die klassischen SIA-Entwicklungsphasen mit der öffentlichen Mitwirkung, mit Community Building, einem Innovationsprozess und so weiter. Diese Prozesskompetenz, eine wachsende Community und ein breites Netzwerk ermöglichen nun die Entwicklung von mehreren «Urbanen Dörfern». Aktuell arbeiten wir an der Transformation von einem Bürogebäude in Zollikofen in einen vibrierenden Lebensort mit hundert Wohnungen, grosszügigen Gemeinschafts- und Gewerbeflächen und einem Schwerpunkt auf der Ernährung. Das andere Projekt ist ein Neubau mit rund 70 Wohnungen mit viel Experimentier- und Möglichkeitsflächen.
Sie möchten sogenannte Pionierdörfer errichten und in ihnen leben. Warum ist für Sie die modulare Bauweise interessant?
MT: Wir verstehen die Pionierdörfer als «urbanen Proberaum», eine Art Reallabor, die ermöglichen, dass künftige Nutzende die verschiedenen Nutzungen und Innovationen vor Ort testen und co-kreativ weiterentwickeln können. Die Modulbauten sind sehr spannend, weil sie uns eine hohe Flexibilität bieten. Sie ermöglichen uns, dass ein Teil der zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner bei Arealentwicklungen, sei das eine Brache oder ein leerstehendes Gebäude, schon von Beginn weg dabei sein, und flexible Räume auf Zeit nutzen können. Nach Fertigstellung des Gebäudes ziehen die modularen Räume dann auf das nächste Areal. So der Plan.
Was erhoffen Sie sich von diesen Pionierdörfern?
MT: Mein Background ist die Start-up-Welt. Da lernt man schnell, dass der beste Plan oft mit dem ersten Kundenkontakt scheitert. Man muss also mit den Nutzenden entwickeln. Übertragen auf die Arealentwicklung braucht es Experimentier- oder eben Proberäume für das Wohnen, die Gemeinschaft, die öffentlich-orientierte Nutzung. Es gibt viele leere Brachen. Mit einem Pionierdorf auf Zeit gewinnen wir wichtige Erkenntnisse für die spätere Entwicklung, bauen eine Identität, schaffen einen Mitwirkungsraum und ein starkes Vermarktungstool. Und es ermöglicht einen kontinuierlichen Innovations- und Feedbackprozess und noch vieles mehr.
Wie funktionieren Pionierdörfer?
MT: Urbane Dörfer will Rohmodell und Lernexperiment für die beteiligten Personen und zukünftigen Baugemeinschaften sein. Wir stützen uns dabei auf vier Pfeiler ab: 1. Wir funktionieren community-basiert. Das heisst, wir betrachten uns als lebendigen und lernfähigen Organismus. 2. Wir stützen uns bei der Organisation und Gestaltung von Entscheidung auf die Soziokratie ab. 3. Wir sind ein Ort und eine Community des Gemeinschaffens und betrachten unsere Ressourcen als Gemeingut. 4. Wir sehen die Rechtsform einer Genossenschaft als passend, um einerseits die ökonomischen, ökologischen und sozialen Interessen zu bündeln und andererseits unseren partizipativen Ansatz auch in der Rechtsform auszudrücken.
Wie sieht das Geschäftsmodell für das Pionierdorf aus und wo liegen die Herausforderungen?
MT: Wir sehen, dass ein zirkulierendes Pionierdorf in modularer Bauweise für uns als junge Genossenschaft noch zu teuer ist; vor allem das Zügeln der Module von einem Standort zum nächsten nach einem ersten Nutzungszyklus. Allein durch die Mieterträge können wir das nicht finanzieren. Mit einer Bankfinanzierung ist es schwierig, weil es bei uns eben nicht um eine ortsgebundene Liegenschaft im klassischen Sinn geht. Das bedeutet, dass wir auf Finanzgeber angewiesen sind, die den Nutzen unseres mobilen Konzepts sehen und uns dabei unterstützen, es zu ermöglichen.
Urbane Dörfer und Bauart
Bilder: Ismael Basler
Aktuell läuft die Entwicklung einer modularen Holzinfrastruktur mit insgesamt 600 Quadratmeter, die ab 2022 für das angestrebte Urbane Dorf im Webergut in Zollikofen zum Einsatz kommen soll. Bauart Architekten und Planer haben Urbane Dörfer in diesem Prozess begleitet und konkret eine Machbarkeitsstudie für einen Pilot des geplanten Pionierdorfs gemacht, Potenzial für eine Skalierung inklusive. Gemeinsam geht es nun darum, das Konzept weiterzutreiben und insbesondere das Geschäftsmodell zu schärfen, um Investoren zu finden, die sich für diese besondere Art einer Arealentwicklung engagieren möchten.
Modellfotos: Bauart
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