Streift man durch die Gartensiedlung Furttal, wird schnell deutlich: Die differenzierten Aussenräume sind hier genauso wichtig wie die Wohnungen selbst. Doch welche Ideen stecken hinter dieser aufgetürmten, modularen Vielfalt des Wohnens? Um mehr darüber zu erfahren, besuchte ich den Architekten Claude Schelling für ein Gespräch.

Luftaufnahmen der Gartensiedlung um 1980. Im Zentrum der Anlage steht ein Pavillon des Künstlers Ivan Pestalozzi gebaut aus Mero-Stäben.

Bilder: Claude Schelling + Partner Architekten AG

Zwischen blühenden Büschen dringen Ausschnitte von Gartengesprächen zu mir auf die Gasse. Der Weg schlängelt sich zwischen den abgestuften, weissen Häusern über Plätze, Treppen und Rampen hangabwärts. Farbige Eingangstüren in Betonrahmen mit Gartenkompartimenten dahinter vermitteln den Eindruck, als habe jeder in der Siedlung seinen eigenen Hauseingang. Wie in einer kleinen Welt für sich fühlt man sich hier am Stadtrand von Zürich-Affoltern in der Gartensiedlung Furttal.

Es ist ein Vormittag im Mai, als ich in Zürich-Wipkingen an Claude Schellings Türe klingle. Er ist der Architekt der Siedlung und wohnt selbst hinter einer solchen Türe, die in einen Vorgarten führt. Für ihn sei sie bereits der Wohnungseingang, sagt er, und der Garten das erste Zimmer. In den 1960er-Jahren lebte er als Student zwei Jahre in Kyoto. Diese Zeit habe sein Raumverständnis stark beeinflusst, erzählt er. Ein spezifischer Ort zum Wohnen und seine Einbindung in die Umgebung spielen für ihn eine wichtige Rolle. Von seinem Aufenthalt in Fernost brachte er auch eine Portion Fortschrittskritik mit. Dies änderte aber nichts an seiner Faszination für das damals brandaktuelle Thema der Vorfertigung im Bauen. Vielmehr fand Schelling einen Weg, in seinen Entwürfen beides zu verbinden: die serielle Modularität der Elementbauweise und die räumliche Komplexität für ein individualisiertes Wohnen.

Mit einem Entwurf nach diesem Prinzip gewann er 1972 den städtischen Wettbewerb zur Siedlung Furttal. Den von der Stadt Zürich geforderten Wohnungsmix packte er in sieben hangwärts ausgerichtete Häuser. Eingebettet in die Landschaft stehen sie in zwei Gruppen um terrassierte Zwischenräume, an denen die Zugänge liegen. Eine sanft gewellte Wiese mit grossen Findlingssteinen verbindet sie. «Wohnhügel» nennt Schelling die Häuser wegen ihrer sichtgeschützten Privatgärten am Gebäudefuss  und den eingewachsenen Terrassen auf den abgetreppten Dächern, die das Bild der Siedlung prägen.

Ausgehend von einem Grundmodul von 3,8 mal 3,8 Metern als kleinste volumetrische Einheit kombinierte er die Wohnungen aus drei bis acht Modulen. In den Häusern wechseln kleine mit grossen Wohnungen ab, Maisonettes arrangieren sich mit Geschosswohnungen, Apartments für Studierende, Ateliers und Familienwohnungen liegen direkt nebeneinander. Die wenigsten der 181 Wohnung wiederholen sich im räumlichen Gefüge – studiert man die Grundrisse, lässt sich darin die entwerferische Lust an den Kombinationsmöglichkeiten eines additiven modularen Prinzips entdecken.

Situation und Funktionsschema für die ursprünglich mit 325 Wohnungen geplante Siedlung: 1_landwirtschaftliches Wiesland, Erholungsraum mit Spielwiese; 2_Erschliessungsraum, Zugang Wohnungen; 3_Verbindungen; 4_Einfahrtshöfe; 5_Strassen

Die vielfältigen Wohnungstypologien der Siedlung Furttal

Schemen: Claude Schelling + Partner Architekten AG

Eine hohe Variabilität im Entwurf und weniger die Flexibilität im bewohnten Zustand war Claude Schellings Absicht. Er plante Vielfalt und damit individuelle räumliche Situationen. Für das bauliche Vokabular stellte er sich einen Katalog vorgefertigter Betonelemente zusammen, die in Variationen immer wieder auftauchen und in der Siedlung Wiedererkennbarkeit erzeugen: Neben den Fassadenelementen gehören Eingangspforten, Pergolen und Pflanztröge als Brüstungen dazu. Auch in den Wohngärten und auf den Terrassen setzt sich mit ihnen das Grundmodul der Innenräume als Ordnungssystem fort. «Aussageelemente» nennt Schelling jene raumbeschreibenden Bauteile, die über ihre Funktion hinaus durch ihre Bedeutung ortsbildend und identitätsstiftend wirken.

Als die Siedlung 1980 fertig war, setze Claude Schelling seine ganzheitlich gedachte Architektur in weiteren Wohnbauten fort: Bis 1994 entstand die Gartensiedlung Grindel in Volketswil und wenig später das Wohnquartier Esplanade in La Chaux-de-Fonds. Auch wenn er die Siedlung in Zürich-Affoltern mit der geplanten zweiten Bauetappe gerne zu Ende gebaut hätte, könnte aus heutiger Sicht gerade das Unfertige, das Unabgeschlossene, einen Teil ihrer Qualität ausmachen. So wie die Stadt nie fertig gebaut ist und sich fortwährend verändert, lässt sie damit Spielraum für eine Stadt der vielen Akteure und einer prozessbedingten Vielfalt, die der Idee umfassender, abgeschlossener Planung gegenübersteht. Stadträumliche Qualitäten, wie sie in der Furttal-Siedlung zu finden sind, besitzen heute über die Agglomeration hinaus Vorbildcharakter.

Längsschnitt und Grundriss.

Pläne: Claude Schelling + Partner Architekten AG

Situationsplan

Plan: Claude Schelling + Partner Architekten AG

siedlungfurttal_cschelling_4067_luciagratz

siedlungfurttal_cschelling_4026_luciagratz

Die Siedlung, wie sie sich heute, nach 40 Jahren, präsentiert.

Bilder: Lucia Gratz

Informationen zur Gartensiedlung Furttal

Architektur: Claude Schelling + Partner Architekten AG
Baujahr: Wettbewerb 1973, Realisierung 1978 – 1980
Bauherrschaft: Liegenschaftsverwaltung der Stadt Zürich
Standort: Hungerbergstrasse, 8046 Zürich Affoltern
Nutzung: Ursprünglich geplant waren 325 Wohnungen im sozialen Wohnungsbau, ein Schulhaus für 12 Primarschulklassen und eine Doppelturnhalle, ein Kindergarten / Kinderhort, Studentenwohnungen. Realisiert wurde nur der Teil auf dem Grundstück der Stadt Zürich (18’800 m2, AZ = 1.05) mit 185 Wohnungen.
Besichtigung: Im öffentlichen Bereich der Siedlung ist eine Besichtigung möglich.
Weiterführende Links: www.c-schelling.ch

> Zur Tour Zürich

Ähnliche Artikel

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.